Grimmen 1914

                                           

                                                                           Erster Weltkrieg - Heimatfront Grimmen





Vorboten 1913

„1913 - was für ein Jahr, da wurde im Herbst die 100jährige Jubelfeier der Leipziger Völkerschlacht gefeiert, die gefallenen Soldaten geehrt – im ganzen Kaiserreich, auch in Pommern. Es war hundert Jahre her, das die Deutschen Napoleon besiegt hatten, was für eine Glorie. Und im späten Frühjahr 1914 gab es eine Ehrung für die rumreichen Kämpfe an den Düppler Schanzen im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, das war 50 Jahre her und wieder ein Jubiläum. Auch die 1870/71-ger Veteranen des deutsch-französischen Krieges wurden in Pommern jährlich während der Sedan-Feierlichkeiten der Kriegervereine (Ende 1912 existierten in der Provinz Pommern 854 Vereine mit 66890 Mitgliedern) bedacht und ihnen stand eine kleine finanzielle Unterstützung zu. Nein, der Krieg war nicht vergessen in den Köpfen der Menschen.
Schon längere Zeit brodelte es unter den europäischen Ländern wieder. Die militärischen Auseinandersetzungen 1912-1913 auf dem Balkan forderten fast 400000 tote und verwundete Soldaten. Die Angst und Sorge vor einem übergreifenden Krieg lag in der Luft, gerade die angrenzenden Länder konnten sich der wirtschaftlichen und auch politischen Auswirkungen nicht entziehen. Die Zeitungsmeldungen vom Kriegsschauplatz machten Angst und führten bisweilen zu chaotischen Auswirkungen bei den Bürgern, bis nach Pommern. Nach Meldungen zu Kurseinbrüchen, über erhöhte staatliche Militärausgaben rannten die Leute auch in Greifswald oder Anklam zur Sparkasse, um ihr Geld abzuholen, sie glaubten dass der Sparstrumpf in den eigenen vier Wänden sicherer sei. Auch darin irrten die Leute, gegen Finanzkrisen, damals wie heute, ist kein Kraut gewachsen. Um die Menschen über die politischen Geschehnisse zu informieren und zu beruhigen, wurde in öffentlichen Versammlungen, im evangelischen Arbeiterverein, im Bürger- oder Gewerbeverein von Grimmen oder z. B. im Arbeiterbildungsverein Abtshagen heftig diskutiert und geredet. Da ging es um soziale Gesetzgebung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Fabriken und der aufkommenden Industrie, um die schwierige Existenz der Handwerkerschaft und den Kaufmannsstand. Und es gab regelmäßig öffentliche Bekanntmachungen im Grimmer Kreis- und Tageblatt, um die Leute zu informieren über den Gang der Dinge, denn Ruhe und Ordnung waren notwendig für das funktionierende Kaiserreich.
Doch es half nichts, denn die politische Sicherheit in der Welt war bereits 1913 erschüttert. So bestimmten Kriegsthemen und Kriegsschaubilder zunehmend die außenpolitischen Berichterstattungen, das lief bereits ab 1912 bis zum ersten Halbjahr 1914. Anfangs erfolgten nur vereinzelte Berichte, scheinbar ausgewählt, was später nicht mehr ausgespart werden konnte. Längst hatten sich die Leute mit den Auswirkungen auf das Alltagsleben auseinanderzusetzen. Schleichend oder sporadisch, eben von Zeit zu Zeit gab es wirtschaftliche Ernährungsengpässe z. B. in der Fleischbeschaffung oder die Milchprodukte wurden wieder teurer, weil der Absatz in die bisherigen Märkte nicht mehr gesichert war. Die Magistrate von Triebsees und Grimmen orderten im Herbst 1913 zusätzliche Lieferungen von Nordseefischen an, um sie den Bürgern dann sehr preiswert zu verkaufen. Aus Grimmen wurde für die 2. Novemberwoche vom Markt berichtet: „Der Markt war heute nur schwach beschickt, jedoch harrte das Publikum auf die spät eintreffenden Nordseefische.“ Auch Brot und andere Backwaren verteuerten sich, das Bäckerhandwerk klagte über die zu hohen Kornpreise. Wohl das größte Problem waren die fehlenden Arbeitsplätze, dadurch geriet die soziale- und Armenpflege zunehmend in stärkerer Bewegung. Man denke nur an die Weihnachtsfeiern für Kinder aus bedürftigen Familien, die regelmäßigen Geldsammlungen durch die Frauenvereine in allen Gemeinden aus Grimmen und Umgebung, was sich in den folgenden Jahren steigern sollte.
 

Kriegsbeginn 1914



Freitag 31. Juli 1914: „Drohender Kriegszustand“ über Deutschland


Der Juli 1914 soll ein besonders heißer Sommer gewesen sein. Er brachte an der Ostseeküste in diesem Jahr den ersehnten Hochbetrieb im Tourismus und Fremdenverkehr. Und das trotz des Schicksaltages vom 28. Juni, dem Attentat von Sarajewo auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger und seiner Gattin. Ganz Europa erstarrte vor Schreck, doch zog für die meisten Menschen bald wieder der Alltag ein. Wer konnte, reiste in die Sommerfrische an die Ostsee, wo sich in den Badelisten sogar eine bessere Tendenz als in den beiden Vorjahren abzeichnete, bis zum 18. Juli 1914: Ostseebad Binz zählte 8838 Sommerfrischler. Die Bahn verkaufte in Berlin auf dem Stettiner Bahnhof vom 2. bis 7. Juli 123500 Fahrkarten zu den Bädern nach Rügen und Usedom. Es war eben Sommerzeit und damit Ferien- und Badesaison, die Bade- und Bewegungskultur an der offenen See war groß in Mode gekommen. Für die Schulkinder in Grimmen begann Mitte Juli die Ferienzeit, erst zwischen dem 3. und 12. August sollten sie wieder die Schulbank drücken. Auch die Spitzen der deutschen Reichsregierung machten Urlaub, Gelassenheit demonstrierend.
Und dann nahm der Alltag eine radikale Wendung, denn am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Von nun an gab es im „Grimmer Kreis- und Tageblatt täglich eine Hiobsbotschaft nach der anderen. An warnenden Stimmen vor einem Vielvölkerkrieg fehlte es auch in Pommern nicht, insbesondere aus den Reihen SPD und der Gewerkschaften, bis zuletzt: 30. Juli 1914 Volksversammlung im Gewerkschaftshaus Stralsund mit fast 400 Teilnehmern, 322 Männer und 72 Frauen. Die Forderung von allen: Kein Krieg! Ein Protokoll über die gehaltenen Reden wurde von einem Polizeibeamten der Stadt sorgfältig mitgeschrieben.
Einen Tag später, am 31. Juli um 12 Uhr mittags, fiel in Berlin die folgenschwere politische Entscheidung. Kaiser Friedrich Wilhelm II. rief den „drohenden Kriegszustand“ über Deutschland aus, außer über Bayern, das tat der König von Bayern. Durch diese militärische Maßnahme ging die vollziehende Staatsgewalt, das hieß auch die des Landrats von Grimmen, auf den kommandierenden General der 2. Armeekorps zu Stettin über und das gesamte Kaiserreich war in militärische Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Meldung vom Kriegszustand wurde von Berlin aus in alle Orte des Kaiserreichs telegrafiert und öffentlich bekannt gegeben. Der „drohende Kriegszustand“ verlangte die sofortige Grenzsicherung im Westen und Osten, des weiteren den Schutz der Eisenbahnen, Schifffahrtswege und Häfen usw. für den bevorstehenden Aufmarsch und eine absolute Nachrichtensperre über militärische Tatbestände.
Nach 14 Uhr ging die eilige „elektrische Drahtmeldung“ auch auf dem Kaiserlichen Postamt in Grimmen ein. In Berlin hielt um 16.30 Uhr der Kaiser vom Balkon des Stadt-Schlosses seine patriotische Ansprache an das versammelte Volk. Und die Menschen, wie reagierten sie in Grimmen auf diese Nachricht. Auf dem Marktplatz z. B. kam es zu spontanen Menschenansammlungen, ähnliche Szenen gab es auch in manchen Gaststätten: Die alles entscheidende Frage für jeden war: Gibt es Krieg?
Seit 1870/71 hatte Frieden im Land geherrscht und nur noch die ältesten Bewohner konnten sich an Kriegsrecht und Kriegszustand usw. erinnern. Auf einmal wurden die Leute sehr geschäftig, jetzt war alles anders, denn die ungeheure Anspannung, die seit einigen Tagen die Menschen im Bann gehalten hatte, war jäh gebrochen.

Sonnabend 1. August 1914 Mobilmachungsbefehl


Dann am Sonnabend, den 1. August, ließ der Kaiser um 17.15 Uhr die allgemeine Mobilmachung des deutschen Heeres und der Flotte anordnen. Im Nachhinein wurde vermutet, dass zwischen diesem 31. Juli und 1. August der Krieg noch hätte verhindert werden können, doch ein deutsches Ultimatum an Russland wurde von Zar Nikolai nicht mehr beantwortet.
Auf allen Telegrafenstationen ging am 1. August 1914 gegen 18.30 Uhr von Berlin der Mobilmachungsbefehl ein, mit dem Text: „Mobilmachung befohlen, erster Mobilmachungstag der 2. August. Dieser Befehl ist sofort ortsüblich bekannt zu machen. Reichs-Postamt.“
An diesem Sonnabend waren die Straßen und Plätze in Grimmen wie die Tage zuvor von Passanten überfüllt. Oder waren sie noch belebter? Überall standen die Leute, Männer und Frauen in Gruppen beieinander und heftig miteinander diskutierend. Den ganzen Tag warteten alle auf die letzte Entscheidung, wird die Mobilmachung ausgerufen. Menschenansammlungen bildeten sich vor dem Rathaus, dem Kaiserlichen Postamt und vor dem Zeitungshaus. Denn die neuesten Informationen von auswärts kamen nur durch Telegrafie, Telefon und wurden über die Zeitungsblätter verbreitet. So warteten die Leute begierig auf die aktuellsten Depeschen. Redakteure saßen an den Drahtmeldungen, um sie in Worte zu fassen. In diesen heißen Tagen mussten die Anschläge für die Öffentlichkeit bis mindestens 22 Uhr im Schaufenster der Verlagshäuser bekannt gemacht werden.
Die Nachricht von der Mobilmachung erreichte Grimmen noch vor 19 Uhr. „Von der Krüger´schen Stadtkapelle wurden auf dem Marktplatz mehrere vaterländische Lieder gespielt. An die Nationalhymne schloss sich ein begeistert aufgenommenes Kaiserhoch. Es war auf allen Gesichtern zu lesen, dass der Bann gebrochen und die quälende Ungewissheit vorüber war. Die Kundgebungen wurden bis in die Mitternachtsstunde fortgesetzt. Man merkte, dass die Mobilmachung die Herzen aller höher schlagen ließ, das bezeugte auch der am Sonntag gut besuchte Gottesdienst.“
Bereits kurz darauf hieß es für die ersten Einberufenen antreten und sie nahmen Abschied von Frau und Kindern, von Eltern und Freunden. Was für traurige Szenen müssen sich im Privaten abgespielt haben und haben sie wirklich geglaubt, Weihnachten zu Hause zu sein?
Auch der Straßenverkehr war unerträglich dicht, auf der Durchgangsstraße fuhr ein Automobil nach dem Anderen. So einen lauten und dichten Verkehr hatten die Einwohner der kleinen Stadt wohl selten erlebt. Die hastig eilenden Menschen, ob Urlauber, Geschäftsreisende oder Händler, sie hatten nur ein Ziel, sie wollten schnellstens nach Hause. Einige Männer hatten schon den Gestellungsbefehl in der Tasche und wurden von den Angehörigen zu den Garnisonen gefahren.
Die evangelische Pfarrgemeinde kündigte an, dass (während des Feldzugs) beide Pfarrer abwechselnd an jedem Donnerstag abends 8 Uhr Kriegsbetstunden in der St. Marien-Kirche abhalten werden. Die erste fand am Donnerstag, den 13. August, statt. Die Gemeinde wurde zur Beteiligung herzlich eingeladen und an diesem Tag das Gotteshaus voll von Teilnehmern.

Angst um das liebe Geld


Der Kriegsausbruch schürte von Anbeginn soziale Ängste und Unsicherheiten bei den Menschen. Viele Kontoinhaber auf der Sparkasse in Grimmen trauten der Sicherheit ihrer Einlagen nicht mehr, besonders die Kleinsparer und sie holten ihr Geld. Solche Geldabhebungen über größere Summen waren in jenen Jahren allerdings nicht neu.
Diesmal war es anders, mit dem Gestellungsbefehl in der Hand liefen die Männer und Väter zur Sparkasse, um für ihre Abwesenheit zusätzlich bares Geld für Frau und Kinder zu haben. Die meisten in den Krieg ziehenden Soldaten glaubten, der Krieg wäre überschaubar und dass sie aus dem Schlachtfeld bald wieder heimkehren würden. Bis Weihnachten wären sie wieder zu Hause bei Frau und Kindern. Wieder ein Irrtum, der Krieg dauerte viel, viel länger und von Beginn an musste die gesetzliche staatliche Familienunterstützung für die Soldatenfamilien sorgen und die Kommunen halfen mit finanziellen Zuschüssen um die größte Not zu lindern.
Aus Angst vor der Inflation trauten die Grimmer auch den Reichsbanknoten und Reichskassenscheinen aus Papier nicht mehr. Allen voran gingen die Kaufleute, die vom Kunden nur Hartgeld annehmen wollten und dazu noch die Preise hochtrieben.
Das staatliche Kontrollsystem funktionierte wirklich gut, so dass der Landrat des Kreises Grimmen einschritt: „Auf Ermächtigung des Herrn Regierungspräsidenten in Stralsund werde ich alle Geschäfte, Wirtschaften, Hotels usw. unverzüglich polizeilich schließen lassen, in denen Reichskassenscheine und Reichsbanknoten nicht zum vollen Wert in Zahlung genommen oder für notwendige Nahrungsmittel unverhältnismäßige Preise gefordert werden. Binnen Kurzem wird die Festsetzung von Höchstpreisen erfolgen.“
Ja, die Münzen waren sehr begehrt und der wirtschaftliche Grund lag auf der Hand. Denn das damalige Hartgeld, die Münzen zu 2, 3 und 5 Mark, enthielten einen Edelmetallgehalt an Silber oder Gold und konnte alle Zeiten und Währungen überdauern. Allgemein stand der Nennwert von einer Mark für einen Feingehalt von fünf Gramm Silber. Eine fünf Mark Silbermünze enthielt also 25 g Silber. Mit Münzen wusste man, welchen Wert man im Sparstrumpf hatte.
Auf Grund der schwierigen wirtschaftlichen Situation in der Stadt war die Sorge ums Geld bei den Zurückgebliebenen groß. Handwerker und Händler verweigerten schon in der ersten Kriegswoche die Ausstellung von Rechnungen und verlangten für ihre Arbeitsleistung und den Verkauf von Waren konsequent Barzahlung. Ja, die Unsicherheit um das liebe Geld war groß.

Pferde für den Krieg


Schon Sommer 1913 bewilligte der Reichstag nicht nur die Erweiterung der Mannschaften und Waffen, sondern auch die Aufstockung des Tiermaterials, geplant waren zusätzlich 7 neue Kavallerieregimenter mit Soldaten, Pferden und Wagen. Wie wir heute wissen, sollte in diesem Krieg die deutsche Kavallerie mit Dragonern, Musketieren, Ulanen, Jägern zu Pferden oder Kürassieren, zu mindestens anfangs, eine wichtige strategische Rolle spielen. Am Ende war der Blutzoll für die Pferde immens: Allein auf deutscher Seite wurde ein Verlust von etwa einer Million Rösser geschätzt. In Feldpostbriefen an die Heimat wurde z. B. traurig geschrieben: „Mutter ich hab mein Pferd, einen treuen Kameraden, verloren, Gott sei Dank, ich bin wohl auf.“
Doch woher die vielen Tiere für die bevorstehenden Schlachten nehmen? Traditionell wurden Militärpferde auf Landesgestüten gezüchtet und zusätzlich von privaten Besitzern als Remonten aufgekauft und dann in militärischen Einrichtungen, den Remontedepots, ausgebildet. Die Anzahl der Remonten reichte aber für die Kriegspläne nicht aus, die große Tierreserve aus dem Lande musste einbezogen werden. Schon seit 1900 wurden über den privaten Pferdebestand der Bauern, Ackerbürger, Rittergüter, Bierbrauereien, Fuhrunternehmen oder Droschkenkutscher Deutschlands militärische Pferde-Musterungen durchgeführt. Auf die Art und Weise wurde jährlich die vorhandene Anzahl militärtauglicher Tiere erfasst.
Ab 1913 wurden die Tiere nach Waffengattungen gemustert und im ersten Halbjahr 1914 erfolgte hauptsächlich im Norden und im Osten Deutschlands der Pferdeaufkauf für das Heer. In Grimmen fand ein Remontemarkt letztmalig am 12. Juli 1914 statt. Da war noch nicht Krieg. Das Militär war von weit hergekommen, aus Saarbrücken, Braunschweig und Bromberg und erwarb von 97 gemusterten und vorgestellten Pferden 25 Pferde im Preis zwischen 1100 und 1300 Mark pro Tier.
In der ersten Mobilmachungswoche trat anstelle des freiwilligen Verkaufs folglich die Zwangsaushebung der Pferde, am 3. und 4. August 1914 wurden die Pferde beinahe so rekrutiert wie die Soldaten. Für jedes ausgehobene Pferd erhielt der Besitzer eine Bescheinigung, worauf er später den Pferdepreis in bar ausgezahlt erhielt. Doch die finanzielle Abfindung ersetzte beispielsweise den Brauereien, Lastfuhrunternehmen, Droschkenbesitzern und erst recht nicht den Bauern auf dem Lande den Verlust an landwirtschaftlicher Arbeitskraft. Was tun ohne Arbeitspferde, die Lösung lag wohl auf der Hand, wie in alten Zeiten mussten dann Kühe und Ochsen daheim die Pflug- und Gespannarbeiten übernehmen. Das wurde von Kriegsjahr zu Kriegsjahr immer mühseliger und ebenso hörten die Klagen darüber nicht auf. Tatsächlich bot die Landwirtschaftskammer in Stettin den pommerschen Bauern 1917/18 mehrmahls tüchtige Zugochsen aus Bayern an.
Nach der Viehzählung vom 1. Dezember 1913 verzeichnete der Landkreis Grimmen 9701 Pferde, bis Ende 1916 reduzierte sich die Zahl des Pferdebestandes auf 8740 Tiere. Für 961 Pferde und 5 Maulesel hieß das Schicksal Front. Mit knapp 11 Prozent an Aushebungen befand sich der Kreis noch in einer recht guten Lage, denn der Durchschnitt aller Kreise in der Provinz Pommern lag bei 18,8 Prozent. Für die Stadt Grimmen berichtete Ende 1916 Bürgermeister Rueckert an die Regierung zu Stralsund eine Verminderung der Pferdezahl um etwa ein Drittel. Die Gründe für den hohen Rückgang in der Stadt lagen nicht nur an der Pferdeaushebung, sondern auch daran, dass in vielen Ackerbürgerfamilien das Pferd nach der Einberufung des Haupternährers verkauft wurde.


Bürgerwehren

Mit Einzug der Männer ins Feld wurden in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens so auch bei der Gendarmerie, Freiwilligen Feuerwehr erhebliche Lücken gerissen, die es schnellstens zu schließen galt. Die Kriegspropaganda schärfte das Feindbild und die Leute hatten in der Anfangszeit des Krieges große Angst und Sorgen vor Verlusten um Hab und Gut. Geschwätzige und sensationsgierige Leute bauschten unbestätigte Meldungen auf und trugen sie als Tatsachen übers Land. Die Situation war sehr schwierig für die Behörden, denn jede kleinste Regung unter den auswärtigen Leuten, insbesondere auf den Gütern, wurde von den Einheimischen misstrauisch weiter gemeldet.
Einige solcher Fälle wurden in den Behördenakten überliefert. Am 2. August nachmittags telegrafierte der Amtsvorsteher aus Nehringen an den Landrat zu Grimmen, dass auf dem Rittergut Keffenbrick Schnitterunruhen ausgebrochen waren. Auf dem Rittergut Zarnekow sollte es noch bedenklicher sein, dort herrsche große Angst, dass die anwesenden russischen Schnitter in der Nacht einen Angriff auf die Bewohner mit Schusswaffen ausführen würden. Ein scharfer Wortwechsel und Drohungen sollten gefallen sein, dazu wurde vermutet dass Schusswaffen bei den Zarnekower Schnitter vorhanden waren. Außerdem seien Leute von russischen Schnittern auf der Chaussee bei Glewitz überfallen worden und einen von ihnen seien Finger abgeschnitten worden.
Auf diese gefährlich und beängstigen Meldungen hin, erbat der Landrat militärischen Schutz vom Generalkommando des 2. Armeekorps zu Stettin. Auf dessen Weisung kam Hilfe vom Garnisonskommando Greifswald. Noch in der Nacht kam unverzüglich ein Offizier und 32 Mann auf einem Kraftwagen nach Zarnekow, dort angekommen stellten sie fest, dass sowohl in Zarnekow wie in Keffenbrinck völlige Ruhe in den Ortschaften herrschte.
Aus Triebsees wurde gemeldet, dass sich zwei russische Schnitter wie beobachtet wurde, Waffen gekauft hatten, der dortige Magistrat griff sofort ein und Polizeidiener nahm ihnen die Waffen wieder ab. Die Waffenkäufer wurden verhaftet und nach Stralsund abgeführt. Der betreffende Kaufmann kam glimpflich davon, ihm wurde lediglich aufs Strengste untersagt, Waffen und Munition an Personen ohne Waffenschein abzugeben.
Auf einzelnen Gütern, so in Kirch-Baggendorf und Ungnade, versuchten russische Schnitter ihre Kameraden aufzuwiegeln, sie wurden durch Gendarmen verhaftet und nach Stralsund transportiert um weitere Schnitterunruhen zu vermeiden.
Um Ordnung, Sicherheit und Ruhe für die Einheimischen zu gewähren, griffen die entsprechenden Behörden zur Tat. Aber auch zum Schutz vor verdächtigen Subjekten aller Art gründete man in den Ortschaften Bürgerwehren. Der Landrat berichtete nach Stralsund, dass im Landkreis Grimmen die Städte Grimmen und Loitz diese Maßnahme eingeleitet hatten, auch Triebsees bildete einen „Sicherheitsverein“. Vom Artilleriedepot Stettin erhielten die Männer Waffen und Munition. Die militärische Ausbildung der Leute in Grimmen übernahm der Forstkassenrendant Zenthier, ein Leutnant a. D. Nach dem ersten Vierteljahr Kriegsalltag entspannte sich die Lage, denn die Leute beruhigten sich wieder. Es gab immer wieder Gerüchte, aber tatsächliche Vorkommnisse gehörten bald zum Alltag und wurden jetzt gelassen hingenommen. Der Kriegsalltag hatte Einzug gehalten und fast überall in Vorpommern lösten sich die Bürgerwehren auf. Bei der Waffen- und Munitionsrückgabe wurde peinlich genau gezählt und Rechenschaft verlangt. Doch Schüsse waren von den hiesigen Bürgerwehren nicht abgegeben worden.


Zivilgefangene


Mit Kriegsbeginn waren die deutschen Grenzen in Ost- und West geschlossen. Ausländern gelang es kaum noch auf legalem Weg Deutschland zu verlassen. Arbeitsfähige Personen wurden festgesetzt an Ort und Stelle und faktisch zu Zivilgefangenen gemacht. In unserer Region betraf das vor allem Russen: als Reisende, von Schiffsbesatzungen, die Badegäste und Gastarbeiter usw. Ein anderer Teil wurde über Sassnitz nach Schweden nach Russland abgeschoben. Für die festgehaltenen Russen entstanden zunächst in Altdamm bei Stettin und Ruhleben bei Spandau die größten zivilen Internierungslager, aus denen auch die Landwirtschaft in Vorpommern fehlende Arbeitskräfte erhielt. Die weitaus größere Anzahl der Zivilgefangenen rekrutierte sich aber aus den seit Frühjahr hier arbeitenden Schnittern, sie kamen aus Russland und Russisch-Polen. Die Zahl betrug Ende November 1914 beispielsweise für die Provinz Pommern 36000 Personen beiderlei Geschlechts.
Damit versuchte man Arbeitskräfte für die Landwirtschaft oder für kriegswichtige Betriebe als Ersatz für die einheimischen, eingezogenen Männer zu sichern. So lautete jedenfalls das deutsche Wirtschaftskonzept. Ende 1916 berichtete der Bürgermeister Rückert aus Grimmen an den Landrat: „Die Landwirte, besonders die Großgrundbesitzer arbeiten meist mit Schnittern und Kriegsgefangenen und werden vielfach im Durchschnitt nicht höhere Löhne zu zahlen haben, wie zu Friedenszeiten.“
Für die Zivilgefangenen russischen und russisch-polnischen Arbeiter bedeutete die Festsetzung auf deutschem Boden Zwangsarbeit. Jeweils nach Anforderung durch die Landwirtschaft, Handwerks- und Industriebetriebe oder durch Kommunen erhielten sie auf der Arbeitsstelle Beköstigung und eine geringe Entlohnung zum eigenen Lebensunterhalt und blieben unter strenger Bewachung. Für die Schnitter blieben die im Frühjahr 1914 und noch in der Friedenszeit abgeschlossenen Arbeitsverträgen erstmal bestehen. Aber ihre persönlichen Freiheiten wurden sofort reduziert, jeder Ortswechsel verboten und die freie Bahnfahrt versagt. Niemand sollte sich in Richtung Osten oder nach Schweden absetzen können.
Als 1914 der Herbst einzog, wurde in Berlin die Entscheidung über den Winterverbleib der ausländischen Schnitter getroffen und durch Korpsbefehl in russischer, polnischer und deutscher Sprache angeordnet: „Infolge des Krieges zwischen Deutschland und Russland dürfen die russischen Arbeiter ihre bisherigen Arbeitsstellen ohne behördliche Genehmigung nicht verlassen, sie müssen vielmehr auch nach Beendigung der in den Arbeitsverträgen vorgesehenen Arbeiten dort verbleiben. Wer gegen diesen Befehl verstößt, setzt sich schwerster militärischer Bestrafung aus. Anstelle der bisherigen Verträge sind neue Verträge für den Winter und für das nächste Jahr (1915) abzuschließen.“ Damit war das Schicksal für die ausländischen Schnitter entschieden, die meisten von ihnen sahen ihre Heimat erst nach Kriegsende wieder.


 Jugendwehr


Der Titel eines 1914 produzierten Kurzfilms „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ mit dem Zwischentitel „Übungen einer Berliner Knaben-Exerzier-Schule“ hätte genauso in Grimmen oder anderwärts gedreht sein können. In dem Film wurde dokumentarisch festgehalten, wie die junge Generation auf den Krieg vorbereitet wurde. Für die Jungen, adliger Offiziersnachwuchs, war es vorerst Spiel, aus dem später bittere Überlebensstrategie wurde.
In dem kleinen vorpommerschen Grimmen handelte es sich dabei um die muntere und lebensfrohe Stadtjugend. Nachdem viele der erwachsenen Männer und Väter stetig aus der Stadt zum Feld ausrücken mussten, wurde auch die Erziehung der jungen Männer nicht einfach. Die Frage, wie wird die Jugend beschäftigt und ausgebildet, was soll aus den jungen Leuten überhaupt werden, stand regelmäßig zur Debatte. Besonders in der anfänglichen Kriegszeit blieben die zurückgebliebenen jungen Männer auf der Strecke. Diejenigen, die bereits vom Alter her freiwillig in den Krieg ziehen konnten, folgten mit großen Idealen den anderen. Doch es blieben die Jüngeren zurück, die sich nach absolvierten Pflichtarbeiten, von denen es reichlich gab, auch ihren eigenen Zeitvertreib suchten. Nicht immer zum Wohlgefallen der Erwachsenen und insbesondere der Mütter, die meist mit anderen Alltagsdingen beschäftigt waren. Und doch fiel das laute Verhalten von Jungendgruppen in später Abendstunde auf, grobe Rempeleien oder übermäßiger Alkoholgenuss usw.
Es galt die nachwachsende und heranreifende Jugend mit Disziplin, Körperstählung, Gemeinschaftsgeist und Kampfbereitschaft auszurüsten. Nach dem Vorbild anderer Gemeinden wurde auch in Grimmen eine Jugendwehrkompanie gegründet und zwar zunächst auf freiwilliger Basis. Dabei blieb der Erfolg mäßig, auch eine öffentliche Kritik an fehlender Beteiligung der Jungen in der Zeitung oder Ermahnungen der Lehrherren, den Jungen für die Übungen freie Zeit zu bewilligen, reichte nicht aus.
Mit Kriegsbeginn August 1914 hatte zunächst der Kriegerverein unter dem Vorsitz von Sanitätsrat Geisler das Szepter in die Hand genommen. Zweck dieser militärischen Übungen auf dem Schützenplatz war, ungeübte Schützen im Hantieren und Schießen auszubilden: Zielübungen, Scheibenschießen mit Teschings und Scharfschießen mit älteren Militärgewehren. Man kam schon am dritten Tag Übungstag auf die „erfreuliche Zahl“ von 43 Mann. Dann kam am 11. September der Aufruf zur Bildung einer Jugendwehr. Alle jungen Leute von Grimmen und Umgebung im Alter von 16 Jahren und mehr, wurden aufgefordert, sich zu einer Lagebesprechung in der Turnhalle der Stadtschule einzufinden. In jeder Woche sollten mindestens 2 militärische Übungen stattfinden, davon eine am Sonntag. Für die Übung an einem Wochentag sollten die Lehrmeister ihren Jungen am Übungstag ab 16 Uhr freigeben. 47 „Jünglinge“ meldeten sich darauf zur Ausbildung in der Jugendwehr.
Aber Magistrat und Kriegerverein mussten zwischenzeitlich feststellen, dass sich besonders die vor dem Militärdienst stehenden jungen Männer, also die vor 20, von den Übungen der Jugendwehr fernhielten. Die erfahrenen Mitglieder betonten erneut: „Die Jugendwehr will dem jungen Mann dazu verhelfen, dass er schnell ausgebildet werde. Was er hier lernt, braucht er bei der Truppe nicht erst zu lernen. Er wird bei der Truppe, zu der er mit einem von der Jugendwehr ausgestellten Zeugnis kommt, ganz anders bewertet als der Rekrut.“ Und man setzte noch hinzu: „Sie haben es nicht begriffen. Jeder Arm, jede Kraft wird notwendig gebraucht. Werden sie nicht heute, so werden sie morgen, d. h. bald gerufen.“
Im Laufe der Kriegszeit, wohl durch die häuslichen Erlebnisse und Erzählungen, auch durch den Umgang im Freundeskreis nahmen die Jungen verstärkt an der Kompanieausbildung teil. Gelegentlich standen in der Zeitung enthusiastische Berichte über die Jugendkompanie: „Begeistert scharrt sich die Jugend, in den Kompanien zusammen, bestrebt, Körper und Geist für die große Aufgabe zu schulen und zu kräftigen. Wohl an, Ihr Meister, Lehrherren und Arbeitgeber! Gewährt den Jungmannen die Zeit, an den Übungen teilzunehmen.“
Die Jugendpflegearbeiten blieben über die gesamte Kriegszeit hinweg ein aktuelles Problem, mit dem sich auch die Gemeinden auseinandersetzen mussten. Die Jugend sollte in der Entwicklung gefördert, ausgebildet und auf keinen Fall von der Gesellschaft vernachlässigt werden. Die Jugendkompanie galt als wichtige militärische Organisationsform für die Jungen, um sie auf die Anforderungen des Krieges vorzubereiten. Ende 1917 berichtete Bürgermeister Rueckert an den Landrat: „Die Jugendpflege liegt hier in den Händen eines Ortsausschusses. Die Übungen und Unterweisungen finden regelmäßig statt. Nachdem den jungen Leuten zur Pflicht gemacht worden ist, ist der Besuch ein reger geworden.“
Am 17. September 1914 starb der erste junge Mann aus Grimmen auf französischer Erde: Karl Glitzenstein, Gefreiter im Jäger-Bataillon Nr. 14, kurz vor der Vollendung seines 20. Lebensjahres.