Moritz Schlick
„Der Krieg, an welchen Nietzsche denkt, ist der Kampf des Individuums gegen Individuen oder der Kampf des Individuums gegen die Masse; und obgleich er nicht als ein rein geistiger Kampf gedacht ist, wäre es doch lächerlich, sich ihn als ein Gefecht mit Gewehren und Schnellfeuergeschützen vorzustellen. Das Wort „Krieg“ hat heute und in der Politik eine ganz andere Bedeutung als im Munde Nietzsches: es bedeutet jetzt eine fürchterliche, länderweite Vernichtungsorganisation, durch welche allerlei Maschinen aus möglichst weiter Ferne explodierende Stahlmassen und giftige Gase auf möglichst gut versteckte Menschen schleudern, auf wertvolle und schurkische, glückliche und unglückliche, kluge und dumme, starke und schwache, mutige und feige; es ist ein wahlloses Wüten des Zerstörungswillens, kein Wettkampf, keine Auslese, eine Naturkatastrophe, eine Massenerscheinung - alles ganz unverträglich mit dem, was Nietzsche unter Krieg versteht. Zu dem Kampf, den Nietzsche fordert und als Vorbedingung des höheren Menschen ansieht, bedarf es keines Wütens der Menschen gegeneinander, ja es gibt keinen besseren Kampf als den gegen die Natur, denn Nietzsche sagt: "Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur - das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Gewalten sich unterjochend.“ Aus „Der Staat“
Rostock vor dem Ersten Weltkrieg
„1913 - was für ein Jahr, da wurde im Herbst die 100-jährige Jubelfeier der Leipziger Völkerschlacht gefeiert, die gefallenen Soldaten geehrt – im ganzen Kaiserreich, auch in Rostock. Es war hundert Jahre her, das die Deutschen Napoleon besiegt hatten, was für eine Glorie. Auch die 1870/71-ger Veteranen des Deutsch-französischen Krieges wurden in Rostock jährlich zu den herbstlichen Sedan-Feierlichkeiten geehrt. Deutschlandweit lebten per 1.04 1914 noch 380000 Veteranen aus diesem Krieg. Das Andenken an die Kriegshelden fand auch im neuen Jahr 1914 keinen Abbruch.
Und doch 1914 mit Jahreswechsel wussten die Menschen nicht was das Jahr ihnen bringen würde, die Sturmflut hier oben an der Küste forderte alle Kräfte heraus, um die Schäden zu beseitigen. Für Rostock und Warnemünde war sie die stärkste und verheerendste Flut seit dem Jahr 1872?. Doch dieses katastrophale Naturereignis lenkte nur kurze Zeit von der kritischen Weltlage ab. Denn schon längere Zeit brodelte es kräftig unter den europäischen Ländern. Die Zeitungen hatten bereits 1912-13 von blutigen Kämpfen auf dem Balkan berichtet und Zahlen von fast 400000 toten und verwundeten Soldaten wurden bekannt. Die Angst und Sorge vor einem übergreifenden Krieg auf Deutschland lag in der Luft, gerade die angrenzenden Länder konnten sich der wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen nicht entziehen.
Die Meldungen der Rostocker Zeitungen vom Kriegsschauplatz machten Angst und führten bisweilen zu chaotischen Reaktionen bei den Bürgern. Nach Bekanntgabe zu Kurseinbrüchen, über erhöhte staatliche Militärausgaben rannten die Leute zur Sparkasse, um ihr Geld abzuholen, sie glaubten dass der Sparstrumpf in den eigenen vier Wänden sicherer sei. Auch darin irrten die Leute, gegen Finanzkrisen ist kein Kraut gewachsen. In öffentlichen Versammlungen des Bürger- oder Gewerbevereins, des Vereins der Haus- und Grundbesitzer, im Marineverein u. a. wurde über die politische Situation und die besondere Handelslage informiert. Die Presse berichtete kaisertreu über die neusten Geschehnisse, denn Ruhe und Ordnung waren notwendig für das funktionierende Kaiserreich.
Doch es half nichts, Kriegsthemen und Kriegsschaubilder bestimmten zunehmend die außenpolitischen Berichterstattungen im ersten Halbjahr 1914 z. B.: Russland führte Krieg mit Japan. Die Vereinigten Staaten marschieren in Mexiko ein.
Längst hatten sich die Bürger Rostocks mit den wirtschaftlichen Auswirkungen auf das Alltagsleben auseinanderzusetzen. Immer wieder gab es schleichend oder sporadisch Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung, z. B. in der Fleischbeschaffung oder die Milchprodukte wurden teurer. Der Grund war meist derselbe: Der Absatz der bisherigen Märkte war nicht mehr sicher. Mit den Bemühungen des Rats gelang es, dänisches Rindfleisch und Nordseefisch zu ordern. Aber auch Brot und überhaupt Backwaren verteuerten sich erheblich, denn das Bäckerhandwerk klagte schon längere Zeit über viel zu hohe Kornpreise.
Frühjahr 1914 herrschte in Rostock große Wohnungsnot. Ein unter diesen Umständen gebildetes Ratskomitee, das nach der Stadtverfassung aus zeitweiligen Vertretern des Rats und der Bürgervertretung bestand, entwarf konkrete Vorschläge und Maßnahmen zur Linderung der Wohnungsnot. In Aussicht gestellt wurden dann vom Rat und der Bürgervertretung die Gründung einer gemeinnützigen Baugenossenschaft und die Forcierung des Projekts „Gartenstadt.“
Rostock vor dem Ersten Weltkrieg – die Stadt zeigte auch eine andere Seite und diese war recht ehrgeizig. Im März 1914 erhielt der Flugenthusiasmus hier in Rostock neuen Aufschwung, während in Schwerin der Konstrukteur und Flieger Fokker mit der Aeroplanbau GmbH punktete. Luft zum Fliegen und Wasser zum Starten und Landen (zu wassern), das bot Warnemünde zur Genüge auf dem Breitling und auf See. Was fehlte, war der große Wurf, die Kooperation mit Flugzeugbauern, eine anerkannte Flugschule und vor allen Dingen: Schaufliegen, nationale und internationale Wettkämpfe. Der Rat schloss einen Vertrag mit der Gothaer Waggonfabrik, die auch Flugzeuge herstellte, ab. Rostock verpflichtete sich innerhalb von drei Monaten auf dem Flugplatz drei große Fliegerhallen, ein Verwaltungsgebäude und eine Reparaturwerkstatt zu errichten und diese der Fabrik Gotha gegen eine jährliche Pacht zu überlassen. Die Gothaer wollten ihrerseits in Warnemünde eine Fliegerschule eröffnen, 2 ausgebildete Flieger sollten in Warnemünde ihren Wohnsitz nehmen und auf Wunsch der Stadt immer sonntags Schauflüge durchführen.
Frühjahr 1914 wurden mit dem Bau des Kurhauses in Warnemünde begonnen. Auf der Sitzung der Bürgervertretung vom 29. Juni 1914 wurden 20000 Mark für eine Projektänderung am Kurhausbau eingestellt, um auch dem sich anschließenden, zu bauenden Kurhotel eine breite Seefront geben zu können.
Anfang Juli beging man die Feierlichkeit zum 100. Geburtstag des Rostocker Sohns und großen niederdeutschen Dichters John Brinckmann (1814-1870), zu dessen Ehren am 5. Juli der Brinckmann-Stein von Wilhelm Wandschneider eingeweiht wurde. Zur „Inwihung von dat Denkmohl in Warn’münn an’n Strom bin’n „Seestirn“ ging der Festtog dörch de Bismarckstrat, Wachtlerstrat, Moltkestrat, Möhlenstrat, Fritz Reuterstrat, John Brinckmannstrat, Post- und Rostockerstrat.“ Drei Wochen später, am 26. Juli, konnte sich auch die Stadt Rostock eines würdigen Denkmals für den Dichter rühmen, der Brinckmann-Brunnen von Paul Wallat fand seinen Standort auf dem Schröderplatz.
Am 14. Juli 1914 fand die Richtfeier für den Erweiterungsbau der Altstädtischen Mädchenschule, ein dreigeschossiger Anbau für 14. Klassen, statt. Ostern 1915 soll hierin der Schulbetrieb aufgenommen werden. Auf der nächsten Sitzung von Rat und Bürgervertretung Mitte Juli 1914 bemühte man sich den „Bau eines Volksschwimmbades“ endlich nach 5 Jahren in die richtigen Bahnen zu lenken. Zur Diskussion stand das ausgearbeitete Projekt von Stadtbaurat Dehn für Baukosten von etwa 352000 Mark am Vögenteichplatz. Dann wurden die Erdarbeiten für den Bau des neuen Universitätskrankenhauses an der Bürgermeister Maßmannstraße ausgeschrieben.
Am 15. Juli kehrten die beiden Bataillone der Garnison vom Lockstedter Truppenübungsplatz mit Sonderzug nach dreiwöchiger Übung mit klingendem Spiel heim und wurden als sonnengebräunte Feldgraue auf das Herzlichste begrüßt. Letztmalig brachte die Fahnenkompanie die Fahnen der „Kaiserfüsseliere“ in das Herzogliche Palais.
Der Monat Juli 1914 brachte Hochbetrieb im Warnemünder Badewesen, trotz des Schicksaltages am 28. Juni, des Tages des Attentats von Sarajewo auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger. Ganz Europa erstarrt vor Schreck, doch zog für viele Menschen bald wieder der Alltag ein. Am 7. Juli wurde wie alljährlich den Kurgästen und den Rostockern das Schauspiel der großen Warnemünder Segelregatta geboten, die mit einer Wetterfahrt der großen Schoner von Travemünde nach Warnemünde begann. Am Tag darauf veranstaltete der Schwimmclub „Rostock 1912“ ein nationales Wettschwimmen. Die Kurliste des Seebades Warnemünde zählte bis um 6. August 1914 15263 Kurgäste.
Anfang August sollten dann die ersten Flugschauen unter den Namen „Warnemünder Ostseeflug“ und „Nordischer Seeflug“ und unter namhafter Schirmherrschaft des Deutschen Vereins für die Nationalflugspende, des Deutschen Luftfahrerverbandes, des Deutschen Luftflottenvereins (Ortsgruppe Rostock) und vom Reichsmarineamt starten. Gemeldet hatten die brandenburgischen Flugwerke, die Albatroswerke Johannistal (Berlin) mit damaligem Chefkonstrukteur Ernst Heinckel, die Melli Beeseler Flugschule, die Aviatik A. G. Mühlhausen (Elsaß), 6 Flieger bzw. Firmen aus Frankreich, je 2 aus Italien und Österreich und 1 aus Schweden. Doch dann kam der 1. August 1914.
Wehrbeitrag finanzierte Aufrüstung und Krieg
Mit dem Reichswehrgesetz von 1913 verabschiedete der Deutsche Reichstag zugleich mit der Einführung einer einmaligen Wehrsteuer auf höhere Vermögen und Einkommen eine zusätzliche Finanzierungsgrundlage zur Heeresvermehrung. Gut gestellte Steuerzahler und Aktiengesellschaften wurden zur Kasse gebeten, das machte den Sozialdemokraten die Zustimmung im Reichstag möglich. Die geplante Aufrüstung der deutschen Armee und Marine mit Offizieren und Soldaten, mit Kriegsschulen, Kasernen, mit modernen Waffen, Schiffen, Luftschiffen, Flugzeugen und Pferden verschlang Unmengen an Geld. 268 Großbauten für Unterkünfte von Mannschaften und Pferden wurden in Angriff genommen und bis Kriegsbeginn zum Großteil abgeschlossen. Eine Milliarde Mark sollte durch den Wehrbeitrag auf die arbeitende und vermögende Bevölkerung abgesichert werden und den Militäretats auffüllen. Steuerpflichtig wurden Bürger mit einem Jahreseinkommen ab 5000 Mark beziehungsweise mit einem Vermögen ab 5000 Mark. Der ermittelte Wehrbeitrag war in 3 Raten 1914/15/16 zu entrichten.
Im Monat Januar 1914 (vom 2. bis 20. Januar) mussten die Bürger und Großbetriebe von Rostock die ihnen zugestellten Formulare mit den Angaben zu ihrem Einkommen, Grundbesitz etc. ausfüllen und einreichen. Die ganze Aktion lief im Rahmen und zusätzlich zu den jährlichen Steuerangaben für das Finanzamt. Für die Vaterlandsverteidigung wurde ein jeder aufgerufen, wahrheitsgetreue und richtige Angaben zum Vermögen zu machen, Differenzen zu früheren Angaben an das Finanzamt blieben unberücksichtigt. Es gab gar ein kaiserliches „Generalpardon“, das hieß, es gab eine Straffreiheit für bisherige kleine Steuerhinterzieher. Eine andere Zeile in den Formularen ließ zur Steuerpflicht noch freiwillige Beiträge für das Heer zu. Das waren nur einige Eckpunkte einer allgemein für den Einzelnen doch recht komplizierten Steuerermittlung, weshalb die Zeitungen der Stadt mehrmals Erläuterungen und relevante Hinweise gaben.
Anfang Sommer 1914 war die erste Rate fällig, etwa 300 Millionen Mark waren im Kaiserreich eingezahlt worden. Aus der vorliegenden Gesamtveranlagung war absehbar, dass die Wehrsteuer bis 1916 weit mehr einbringen sollte, als die Finanzexperten im Voraus schätzten: etwa 200 Millionen über die gewollte Milliarde Mark. Es stellt sich die Frage, wodurch konnte so ein Ergebnis erzielt werden, wenn die Leute doch kurz vor Ausbruch des Krieges in den normalen Alltagsdingen schon eingeschränkt waren? Tatsächlich sprach man allenthalben von der Grundehrlichkeit fürs Vaterland, für die Soldaten, schließlich für die eigenen Männer und Söhne. Es gab weiterhin eine ungeheure Spendenbereitschaft unter den Leuten und unzählige freiwillige Spenden. Am 14. Mai 1914 erließ der Kaiser daher einen Erlass, in dem er seinen persönlichen Dank in der Zeitung erschienen ließ: „Es ist Mir ein Herzensbedürfnis allen, die durch solche Beiträge vaterländischen Opfersinn in rühmlicher Weise betätigt haben, Anerkennung und Dank auszusprechen.“
Allein die 28 deutschen Großstädte mit einer Gesamteinwohnerzahl von 8,5 Millionen Menschen brachten rund 294 Millionen Mark an Wehrbeitrag auf. Als eine reiche Stadt mit 28 Millionen Mark an Wehrbeitrag und einer sehr hohen pro Kopfziffer von 92 Mark erwies sich Charlottenburg. Danzig erreichte 1,5 Millionen Mark aber nur mit einer Summe von 9 Mark pro Einwohner. Mit kleineren Beträgen, natürlich abhängig von der Einwohnerzahl, operierten unsere mecklenburgischen Städte. Aus Teterow kamen beispielsweise 50000 Mark aus Grevesmühlen 51700 Mark und aus Gadebusch 9400 Mark an Wehrbeitrag.
Und es gab viele Reiche im Kaiserreich. Die fünf höchsten besteuerten Personen im Deutschen Reich brachten zusammen die ansehnliche Summe von 22 Millionen Mark ein: Berta Krupp von Bohlen und Halbach hatte am meisten zu zahlen, nämlich 8 Millionen und 800.000 Mark. Ihr folgte Fürst Guido Henckel von Donnersmark mit 4.200.000 Mark. 4.100.000 Mark fielen auf den deutschen Kaiser Friedrich Wilhelm II. An vierter Stelle stand der Großherzog von Mecklenburg mit 3.400.000 Mark und an fünfter Stelle der Fürst von Thun und Taxis mit 1.500.000 Mark.
Kriegszustand über das Kaiserreich
Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Am Tag darauf, den 29. Juli, titelte die Rostocker Zeitung: „Die Gefahr eines Weltkriegs“. Eine Antikriegsveranstaltung der Sozialdemokratie am Abend verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse, so der Polizeibericht. Am 30. Juli hieß die Schlagzeile auf Seite 1: „In der zwölften Stunde“. Die Teilmobilmachung Russlands rückte den Krieg gefährlich nahe. Am Freitag, den 31. Juli 1914, titelte die Rostocker Zeitung: „Auf des Messers Schneide“. Der kulturelle Höhepunkt der ersten Augustwoche, der Ostsee-Flug in Warnemünde, war abgesagt worden und die zur Flugschau beitragenden fünf U-Boote sowie der Kreuzer „Hamburg“ dampften nach Kiel ab. Die Eisenbahnbrücken über Elbe, Nebel und Warnow wurden schon vom Militär bewacht.
Nach Redaktionsschluss (12 Uhr mittags) der Zeitungen am 31. Juli fiel am Nachmittag in Berlin die erste schwerwiegende politische Entscheidung. Kaiser Friedrich Wilhelm II. rief den „drohenden Kriegszustand“ über Deutschland aus, außer über Bayern, was dann dort der König von Bayern tat. Durch diese militärische Maßnahme ging vollziehende Staatsgewalt auf die kommandierenden Generäle der Armeekorps über und das Kaiserreich war in Alarmbereitschaft versetzt worden. Und um 16.30 Uhr redete der Kaiser vom Balkon des Berliner Schlosses. Zuvor wurde diese Meldung vom Kriegszustand von Berlin aus nach allen Orten im Kaiserreich telegrafiert und überall ausgeklingelt.
Nach 14 Uhr ging die eilige „Drahtmeldung“ auch auf dem Kaiserlichen Postamt in Rostock ein. Unter Trommelwirbel ließ gegen 18 Uhr ein Offizier in Begleitung von 10 Soldaten die bedeutende Meldung für die Bürger ausrufen. Eine große Menschenmenge begleitete den Offizier, der die Bekanntmachung des kommandierenden Generals des 9. Armeekorps, von Generaloberst von Quast aus Altona, verlas. (Das 9. Armeekorps, zu dem Mecklenburg und Rostock gehörten, hatte seinen Sitz in Altona und Anfang August 1914 übernahm General von Boehn (Roehl) das Kommando). Auf dem Blücherplatz kam es zu spontanen patriotischen Kundgebungen und später ereigneten sich solche Szenen auch in den Gaststätten: Das ist der Krieg? Ja, seit 1870/71 war Rostock so einer Situation nicht mehr ausgesetzt und nur noch die ältesten Bewohner konnten sich an Kriegsrecht und Kriegszustand erinnern. Die ungeheure Anspannung, die seit einigen Tagen Rostock im Bann hielt, war gebrochen.
Doch das war noch nicht der Krieg, es war „drohende Kriegszustand“ und der verlangte die sofortige Grenzsicherung im Westen und Osten, den Schutz der Eisenbahnen und anderer wichtiger Verkehrswege für den Aufmarsch und eine absolute Nachrichtensperre über militärische Tatbestände.
Doch alle Gefahren waren nicht abzuwenden. Dem Rostocker Dampfer „Julius Zelck“ passierte gerade jetzt im Kaiser-Wilhelm-Kanal das Missgeschick schwer auf Grund zu laufen und die freie Fahrt für die Militär- und Versorgungsschiffe zu gefährden. Vier große Schleppdampfer versuchten vergebens das Schiff abzuschleppen. Das Kanalamt schickte den Bagger „Holtenau“ nach der Unfallstelle, um das Schiff frei auf Backbord zu baggern.
Auch die Wirtschaft in der Seestadt Rostock erfuhr am 31. Juli die erste Erschütterung. Ein Ausfuhrverbot für Getreide war vom kommandierenden General sofort ausgesprochen worden. Zwei mit Getreide beladene dänische Dampfer mussten die Ladung wieder löschen und zum letzten Mal waren zwei Dampfer mit englischen Steinkohlen eingetroffen.
Mobilmachungs-Befehl
Am Sonnabend, den 1. August, ließ der Kaiser um 17.15 Uhr die allgemeine Mobilmachung des deutschen Heeres und der Flotte anordnen. Zwischen dem 31. Juli und 1. August lagen noch Stunden, in denen der Krieg hätte noch verhindert werden können, ein deutsches Ultimatum an Russland, auf das Zar Nikolai nicht mehr antwortete, im Gegenteil Russland erklärte Deutschland den Krieg. So verlief das politische Szenario, die Weltlage hatte sich schlagartig geändert und das war der Krieg.
Auf allen Telegrafenstation ging am 1. August 1914 gegen 18.30 Uhr von Berlin der Mobilmachungsbefehl ein, mit dem Text: „Mobilmachung befohlen, erster Mobilmachungstag der 2. August. Dieser Befehl ist sofort ortsüblich bekannt zu machen. Reichs-Postamt.“
An diesem Sonnabend waren die Straßen und Plätze Rostocks wie in den vorherigen Tagen erneut von Passanten überfüllt. Überall standen die Leute, die Männer Pfeife und Zigarre rauchend und heftig diskutierend. Man erwartete den ganzen Tag über auf die letzte Entscheidung, ob Krieg oder nicht Krieg, auf die Mobilmachung. Große Menschenansammlungen bildeten sich vor dem Rathaus, dem Kaiserlichen Postamt und vor den Verlagshäusern vom Rostocker Anzeiger und der Rostocker Zeitung. Damals gab es noch keinen Rundfunk oder Fernsehen und die neuesten Informationen von auswärts kamen nur durch das Telefon, durch die Telegrafie, und journalistisch aufbereitet in den Zeitungen, an den Mann und an die Frau. So warteten die Leute gierig auf die aktuellsten eingelaufenen Depeschen, die von den Redaktionen in diesen heißen Tagen bis mindestens 22 Uhr durch Anschlag im Schaufenster ihrer Verlagshäuser bekannt gemacht wurden.
Die Nachricht von der Mobilmachung erreichte die Rostocker noch vor 19 Uhr. Bald hieß es für die ersten einberufenen Soldaten Abschied nehmen von Frau und Kindern, von den Eltern oder von alten Freunden. Männer schämten sich nicht der Tränen beim Abschiedskuss.
Aber schon heute drängelten sich die Leute in den Rostocker Straßenbahnen und am Bahnhof wimmelte es vor Reisenden. Die Züge füllten sich bis auf den letzten Stehplatz mit Urlaubern, die jäh ihre Ferien abbrachen und mit heftig diskutierenden Studenten auf ihren Koffern. Fast menschenleer waren in den letzten Tagen die Hörsäle auf der Universität geworden, obwohl das Semester erst zum 15. August endete. Die junge Generation reiste ab, als wüsste sie, was zu tun war.
Auf der Durchgangsstraße fuhr ein Automobil nach dem anderen in Richtung Wismar, Lübeck, Hamburg oder nach Stralsund. So einen lauten und dichten Verkehr hatte Rostock noch nie gesehen. Die hastig eilenden und dabei meist stummen, erstarrten Menschen, ob Urlauber oder Geschäftsreisende, alle sie wollten schnellstens nach Hause. Einige Männer hatten schon den Gestellungsbefehl in der Tasche und wurden von den Angehörigen zu den Garnisonen gefahren. Alle wussten nun Bescheid.
Am Sonntagvormittag (2. August) waren dann die Gottesdienste in den vier Hauptkirchen Rostocks voll besucht und die Gläubigen hörten die ersten Kriegspredigten. Die Rostocker Zeitung titelte in der Sonntagsausgabe: „Die Mobilmachung steht bevor“. Am Nachmittag soll eine beängstigende Totenstille in der Stadt geherrscht haben. Rostocks Kinder und die unbekümmerte Jugend vertrieben sich die Zeit in der städtischen Freibadeanstalt am „Faulen Tor“, die nach der Zerstörung durch die Sturmflut am Jahresanfang wieder hergestellt und eben an diesen 2. August eröffnet werden konnte. Der Bahnhof zeigte sich weiterhin sehr belebt mit den jungen Männern, die mit den Zügen eintrafen und zur Rostocker Garnison wollten oder Einheimischen, die mit dem Gestellungsbefehl zu ihren Sammelstellen im Land fuhren.
Miltärfahrplan und Aufmarsch
Der von der OHL (Oberste Heeresleitung) lange vor dem Krieg ausgearbeitete Militärfahrplan sollte den Aufmarsch der deutschen Armeen an die Fronten mit der Eisenbahn sichern und später auch weitläufige Truppenverschiebungen ermöglichen. In der Nacht vom 2. und 3. August trat dieser Militärfahrplan in Kraft, was die Rostocker Zeitung am 4. August 1914 bekannt gab. Bis auf Weiteres werden keine zivilen Personen und wirtschaftliche Güter mehr befördert, hieß es.
Die ersten Rostocker Soldaten mussten sich schnell auf den Weg machen. Schon am 31. Juli nachmittags war es intern den Führungsoffizieren bekannt, dass ein Bataillon am 1. Mobilmachungstag (am 2. August) ausrücken müsse. Spätabends am 2. August setzte sich unter Marschmusik das Bataillon von der Kaserne zum Friedrich-Franz-Bahnhof in Bewegung, begleitet am Straßenrand von vielen Rostockern.
In der Nacht um 1.30 Uhr des 3. August rollte der lange Zug mit den Soldaten, Pferden, Wagen, Bagage und Munition aus dem Bahnhof. Die Fahrt an die Westfront dauerte 2 Tage und verlief langsam und beinahe gespenstisch. Denn der Militärfahrplan schrieb in der Zeit des Hauptaufmarsches eine reduzierte Grundgeschwindigkeit von 30 km/h auf den Hauptbahnen und 25 km/h auf den Nebenbahnen vor. Der Hauptetappenort war nur dem Kommandeur bekannt, auch die Eisenbahnbeamten wussten nichts, die mecklenburgischen Soldaten erfuhren erst genauer am Rhein oder nach den Schwarzwaldbergen, wohin die Fahrt letztendlich ging. Dann sah man oft mit Kreide an die Fenster der Waggons mit Übermut geschriebene Parolen wie: „Auf nach Paris“. Die erste Station für die Rostocker war Harburg, willkommene Pause mit Kaffee, Tee, Brötchen, Butterbrote, Kekse, Getränke, dargereicht von freundlichen „Liebesgabendamen“. Weiter ging es über Kirchweyhe-Osnabrück nach Münster. Dann warmes Essen für 500 hungrige Soldatenmägen auf dem Bahnhof Oberhausen. Mit Hurra und deutschen Liedern ging's über den Rhein! 2 Uhr 58 Minuten früh mit preußischer Pünktlichkeit, so wie es im Fahrplan vorgesehen war, traf der Militärzug bei strömendem Regen in Herzogenrath ein. Von dort aus sollte das Bataillon über Aachen zum Sammelplatz der verstärkten 34. Infanterie-Brigade marschieren, also Einsatz in Belgien.
In der Schlacht um die Festung Lüttich vom 4.-16. August 1914 starben am 6. August sechs Rostocker Offiziere, fünf wurden schwer verwundet und drei Offiziere gerieten in belgische Gefangenschaft. Am 7. August 1914 verlor die Rostockerin Anna Siegert ihren 19-jährigen Sohn Hermann, der als Fähnrich im 3. Badischen Dragonerregiment Prinz Karl Nr. 22 kämpfte.
Der Militärfahrplan zog auch für die Heimatfront Konsequenzen nach sich. Etwa vier Wochen lang wurde der bisher gültige Personen- und Güterfahrplan bis auf wenige Züge am Tag stark eingeschränkt, da Lokomotiven, Wagen und Personal für den Aufmarsch abgezogen waren. Private Reisen der Rostocker mit dem Zug nach Hamburg, Berlin oder Stralsund waren in der ersten Kriegswoche sehr schwierig und mitunter gar unmöglich geworden. Ebenso abgeschnitten vom Verkehr blieben Industrie und Handwerk, die auf den Absatz ihre Produkte und Zulieferer angewiesen waren. Ab 8. August fuhr erstmals wieder ein Butter- und Milchzug auf der Mecklenburgischen Friedrich-Franz-Eisenbahn, um die städtische Bevölkerung mit dringend erwarteten Milchprodukten und anderen Lebensmitteln vom Lande versorgen zu können, doch eine Gewähr für pünktliche Beförderung übernahm die Bahn nicht. Erst als die erste große Mobilmachungsphase abgeschlossen war, konnte am 23. August der Schnellzugverkehr zwischen Hamburg-Kopenhagen und Berlin-Kopenhagen mit je einem Zugpaar täglich über die Trajektfährverbindung Warnemünde-Gedser (unter Begleitung mit einem deutschen Kriegsschiff auf der Ostsee) wieder aufgenommen werden. Auch das sollte nicht durchgehend und von Dauer sein.
